Was Heilung mit Berührung zu tun hat...
Wenn Kinder zur Welt kommen, dann verfügen sie über ein noch nicht ausgereiftes Nervensystem. Sie werden vom ersten Atemzug an allerlei Reizen und Erfahrungen ausgesetzt, die ihr sensibles
Nervensystem komplett überfordern können. Da sind sie dann in erster Linie auf die Mutter (oder die Bezugsperson) oder besser gesagt auf ihr Nervensystem angewiesen, damit sie sich wieder
regulieren können.
Wenn ein menschlicher Organismus (gilt übrigens auch für Tiere) aus der Balance gerät, weil er unter Stress steht, wir nehmen hier als Beispiel das ungestillte Bedürfnis nach Nahrung, dann fängt
das Kind an sich bemerkbar zu machen bis es irgendwann stark weinen muss. Erkennt die Mutter (die Bezugsperson), welches Bedürfnis das Kind gerade erfüllt haben muss, dann lässt sich das Kind
wieder schnell beruhigen.
Es gibt jedoch weit mehr Bedürfnisse, die so ein kleiner Mensch schon verspürt. Wenn es gefüttert, gewickelt wurde und genug geschlafen hat, kann es dennoch sehr unruhig sein. Vielleicht weil es
ihm im Raum zu laut ist oder vielleicht weil es einfach Nähe braucht.
Die Naturvölker sind in dieser Hinsicht das beste Vorbild. Sie tragen ihr Kind überall mit hin. Beim Essen zubereiten, beim Feld bestellen, beim Schlafen, beim Gehen... Überall ist das Kind im
Tragetuch oder auf dem Arm mit dabei. Am Körper. Es erfährt ständig und überall mütterliche Nähe und Hautkontakt. Es muss sich nicht fürchten, dass die Mutter nie wieder kommt, wenn es im
Bettchen allein schlafen lernen muss. Es muss nicht lernen, allein sich beruhigen zu können, weil es die Eltern für richtig halten.
Sehr sehr viele von uns wurden in der Kindheit nicht gerade verwöhnt, was die Berührung und Körperkontakt angeht. In vielen Krankenhäusern wird sogar heute noch nach der Uhrzeit gestillt,
zwischen den Mahlzeiten werden die Babys sich selbst und ihren Todesängsten überlassen.
Schon ganz früh lernen die kleinen Menschen, dass sie verlassen werden, dass sie nicht gehört werden in ihrer Not und dass keine Hilfe zu erwarten ist. Das hinterlässt tiefe
Spuren in der Seele jedes Kindes. Und diese frühen, teils traumatischen Erfahrungen wirken stets weiter in das spätere Teenager- und Erwachsenenleben hinein.
So haben wir nicht gelernt wie wir mit Nähe und Distanz so umgehen können, dass wir uns damit wohlfühlen und ohne den anderen mit unserer Ablehnung zu verletzen oder mit zu viel Klammern zu
erdrücken. Wir sehnen uns oft so sehr nach wirklicher Nähe, und wenn uns diese dann geschenkt wird, macht es uns wiederum große Angst oder wir fühlen uns sehr unwohl dabei und fliehen.
All diese Erfahrungen, die wir als Kinder gemacht haben, auch wenn wir meinen, wir hätten eine wundervolle Kindheit, sind unbewusst in unserem Körper gespeichert. Sie wirken in unserem Körper und
in unserer Seele weiter. Und so kann es kommen, dass nach 30/40/50 Jahren auf dieser Erde plötzlich Dinge in unserem Leben geschehen, die uns aus unserer vermeintlich sicheren, gewohnten Welt
rausreißen.
Trennung, Scheidung, schwere Krankheit oder Tod naher Angehöriger, Jobverlust usw. können alte Wunden wieder aufreißen und wir wissen gar nicht, woher all die schmerzvollen Gefühle kommen.
Es liegt natürlich nahe, den Umständen im Außen die Schuld dafür zu geben.
Doch wenn wir genauer hinschauen, ehrlich hinsehen und uns mit den alten Wunden aus der Kindheit beschäftigen, erkennen wir, dass dieser Schmerz, der gerade unaufhörlich in uns pocht,
eigentlich uns schon lange bekannt ist.
All diese Gefühle wie Schmerz, Verlust, Angst, Ohnmacht und Trauer sind uns sehr vertraut. Doch bislang war es möglich all diese Gefühle unter
Verschluss zu halten und uns mit allem Möglichen abzulenken...
Bis dann dieser Riss im Buch underes Lebens kommt und die Ablenkungen ihre Wirkung verlieren... Wenn die Sätze im Buch keinen Zusammenhang mehr
ergeben...
Wenn der Mensch, der uns einst die ewige Treue versprach, auf einmal ein Leben ohne uns wählt... Wenn der sichere Hafen für immer verloren scheint...
All das sind Chancen...
Chancen auf Heilung. Auf Heilung unserer alten Wunden aus der Vergangenheit. Um endlich wirklich zur Ruhe zu kommen. Um bei sich selbst anzukommen. Ohne Abhängigkeit vom anderen. Ohne, dass wir
wie Bettler nach Liebe gieren.
Doch zuerst sind viele Schritte der Selbsterkenntnis und der Übernahme der Eigenverantwortung nötig. Dann wird erst wahre Liebe geboren. In uns selbst. Erst dann werden wir
zu Gebenden, die etwas zu verschenken haben. Erst dann lernen wir uns selbst zu regulieren. Und werden so zum Geschenk an unsere Mitmenschen, an unser Umfeld.
Dann können wir auch wieder wirkliche Nähe zulassen und aushalten. Dann kann Berührung unter die Haut gehen ohne uns weh zu tun. Dann geschieht Heilung auch im Körper. Ganz zart, ganz langsam.
Und doch so nährend. Wir laufen nicht weg. Wir lassen die Körper in Kontakt kommen. Und wir lassen Heilung geschehen. Auf allen Ebenen.

Kommentar schreiben
Gottfried (Montag, 17 Februar 2020 14:03)
Wenn man darüber nachdenkt – Abgesehen von der individuellen, persönlichen Not, die aus dem falschen Umgang mit Kleinkindern entstehen: Das ist ein gesamtgesellschaftliches Problem von größtem Ausmaß ... Den meisten Menschen würde es so viel besser gehen, wenn der Start ins Leben besser gelingenen würde ...